Doppelte Pieta und der Cochemer Kapuzinerpater
Einige Orte in Cochem erinnern an den berühmtesten Sohn der Stadt, der seinen Geburtsort stets im Namen führte und mit seinem Büchern über die Grenzen hinaus bekannt machte: Pater Martin von Cochem (13. Dezember 1634 – 10. September 1712). 1934, zum 300. Geburtstag, schuf der Trierer Bildhauer Anton Nagel die lebensgroße Statue des Paters für die Außenmauer des Alten Chores an der Pfarrkirche St. Martin. Derselbe Bildhauer gestaltete in den darauffolgenden Jahren auch das heutige Reiterstandbild auf dem Marktbrunnen und den Bockbrunnen moselseitig vor der Kirche.1 Das Gymnasium unterhalb der Burg Cochem und der große Veranstaltungssaal im ehemaligen Kirchenschiff des heutigen Kulturzentrums Kapuzinerkloster tragen den Namen "Martin von Cochem". Die Liniusstraße, die zum alten Stadtor und zur Thorschenke hinführt, ist nach seinem Familiennamen benannt. Dort stand sein Geburtshaus. Da sich im Nachfolgegebäude bei den Feierlichkeiten zum 350. Geburtstag im Jahr 1984 zum damaligen Zeitpunkt eine Nachtbar befand, wurde die Gedenktafel von der Stadt kurzerhand am Haus rechts daneben angebracht.
1623 erteilte der Kurfürst Lothar von Metternich den Kapuzinern die Erlaubnis, ein Kloster in Cochem zu errichten, er schenkte dem Orden dazu sein Gelände mit der alten Burg Kemplon, dieser mittelalterliche Wohnturm durfte dafür abgerissen werden. Ebenso schenkten Cochemer ihre umliegenden Gärten. Der heutige linke Friedhof war einst der große Klostergarten zur Selbstversorgung mit Obst und Gemüse und einem Kräuter- und Heilpflanzenanbau. Das Stifterehepaar Johann Jacob von Eltz und Maria Elisabeth von Metzenhausen von der Burg Kempenich finanzierten den gesamten Bau des Konvents mit einem Krankensaal sowie die Klosterkirche. Nach zehnjähriger Bauzeit erfolgte die Weihe am 18. Juli 1635. Die Kapuziner predigten auch in den Gottesdiensten der Pfarreikirche, nahmen Beichten ab und unterhielten eine Lateinschule. Der Rückhalt und die Akzeptanz des Klosters durch die Stadtbewohner war immer sehr groß, bis zur Säkularisation 1802 gab es allein aus Cochem 70 Ordenseinritte. Linius, der Sohn eines Cochemer Hutmachers, der aus Bernkastel stammte, war bei seinem Eintritt am 2. März 1653 bereits der 17. Noviziar aus Cochem. Er erhielt den Ordensnamen Martin nach dem Schutzpatron der Stadt und der Pfarrkirche, dem heiligen Martin. Seinen Taufnamen kennen wir nicht, die Kirchenbücher gingen bei der Zerstörung von Cochem 1689 verloren. Er könnte, wie viele Jungen der Familie Linius, nach Vater oder Onkel benannt worden sein, eventuell hieß er also Matthias oder Friedrich. Sein theologisches Studium absolvierte er im Orden in Köln, Mainz und Aschaffenburg. Nach seiner Priesterweihe wurde er selber Seminarleiter in Mainz. Dort erhielt er 1666 den Auftrag, einen Kathechismus für Kinder in der Frage- und Antwortform zu verfassen. Dieses Büchlein war derart klar und verständlich formuliert, dass es im Bistum Mainz für Jahrzehnte verbindlich blieb. Sein Kölner Verleger erkannte sein besonderes Schreibtalent und forderte vom Orden, Martin für die Schriftstellerei freizustellen. Dazu kam es nie, im Gegenteil: ihm stand ein sehr arbeits- und reiseintensives Leben bevor. Pater Martin wurde vom Orden in immer neue Gemeinden versetzt, um dort als Pfarrprediger, Katechet, Beichtvater in der Seelsorge oder als Missionar in protestantischen Gegenden zu wirken. In späteren Jahren bereiste er auch als Visitator die Bistümer Mainz und Trier, um in den Gemeinden nach dem Rechten zu sehen oder um bestehende Streitigkeiten beizulegen. Drei ruhigere Jahre bei seinem Kapuzinerbrüdern in Königsstein ließen ihm die Zeit, wieder mit dem Schreiben anzufangen, Als Ergebnis erschien 1677 sein bekanntestes und literarisch bedeutendstes Werk, das "Leben Christi". Hierin erzählte er das biblische Geschehen mit eigenen, bildlich-plastischen Worten nach, die die zahlreichen Leser tief berührt haben müssen. Er nannte es im Titel "ein sehr andächtiges/nutzliches und tröstliches Büchlein", eine typisch barocke Untertreibung, denn es umfasst über 1.000 Seiten. Der Erfolg ist unbeschreiblich. Sieben Mal hat er es in Folge überarbeitet, zu seinen Lebzeiten erschienen bereits 40 Auflagen. Es wird über 220 Jahre lang neu aufgelegt, bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts sind insgesamt 177 Auflagen bekannt. Unautorisierte Nachdrucke erfolgreicher Werke waren nicht selten und trafen auch Pater Martin. Sein Hauptverleger ließ auf einem Markt zufällig entdeckte, illegale Ausgaben sofort konfiszieren. Im 17. und 18. Jahrhundert war die Anschaffung eines religiösen Buches wegen der Kosten für viele Familien ein besonderes Ereignis, oft blieb es das einzige Buch im Haus, wurde mehrfach gelesen oder vorgelesen und dann vererbt. Eine berühmte Leserin der Bücher Pater Martins war die stigmatisierte Nonne Anne Katherina Emmrick. Clemens Brentano besuchte sie von 1819 bis zu ihrem Tod 1824 regelmäßig in Dülmen und notierte ihre Visionen und schrieb Bücher darüber. Viele Details darin ähneln den Schilderungen Pater Martins. Vielleicht hat Martin sogar indirekt die Verfilmung "Die Passion Chrisi" von 2004 beeinflusst, denn Mel Gibson nennt die Visionen der Nonne als seine wichtigste Quelle.
Martin verfasste als Auftragsarbeit für Bistümer oder Wallfahrtsorte im Laufe seines Lebens verschiedene Gebetbücher und überarbeitete ein Mainzer Gesangbuch. Seine zunehmende Berühmtheit und seine daraus erwachsende Sonderstellung fand im Orden nicht nur Freunde: Neid und Mißgunst waren seine ständigen Begleiter, wie wir im Folgenden sehen können. Seine Predigten hat er wohl nicht immer schriftlich vorbereitet, sprach lieber frei heraus und vermutlich ohne die im Barock üblichen, verschachtelten Sätze. Mit seiner leutseligen, mosellanischen Art war er bei den Gläubigen beliebt. Auf dem Provinzkapitel in Mainz wurden 1684 mehrere Beschwerden gegen ihn erhoben. Er sei ungehorsam und respektlos gegen die Oberen der Klöster und entscheide zu viel eigenständig. Er solle sich mehr auf seine Predigten konzentrieren, Zuhörer hätten den Eindruck, er wäre wenig bis gar nicht vorbereitet. Katechesen und Versammlungen in späten Abendstunden hätten zu unterbleiben und er möge weniger mit Frauen reden. Hauptvorwurf Nummer 1 aber war: Er solle möglichst keinen Wein mehr trinken. Damals wie heute kein Satz, den ein Mosellaner wirklich erst nehmen könnte. Sein Orden hatte es sicher nicht immer leicht mit ihm, Martin dagegen schien auch einiges wegstecken zu können, konfliktscheu war er jedenfalls nicht. 1692, in Kloster Günzburg an der Donau, ging sein Temperament auf der Kanzel mit ihm durch, er kritisierte vehement die vom Augsburger Fürstbischof genehmigten Fastenerleichterungen. Die schockierten, dortigen Kapzuziner wollte ihren rheinischen Gast deswegen im hohen Bogen hinauswerfen. Der Fürstbischof selber verübelte ihm den Widerspruch nicht. Die Familie mochte Pater Martin. Seiner Mutter, der Kurfürstin, hatte Martin drei seiner Bücher gewidmet. Diese konnte die Wogen noch einmal glätten. Das Predigtverbot blieb aber bestehen.
Autoren erhielten in der Regel kein Geld und wurden mit ein paar Freiexemplaren abgespeist. Als selbstbewusster, erfolgreicher Autor verhandelte Martin bessere Konditionen für sich aus. Die Verlage wollten ihren Umsatzbringer nicht verlieren, schlugen neue Buchideen vor, versorgten ihn mit ausländischen Literaturvorlagen, die er für die deutschen Leser überarbeiten sollte. Mit seinen Historien- und Heiligenlegenden macht er vor allen die Geschichte der "Genovefa" in deutschen Sprachraum populär. Die Verbindung zur Cochemer Familie brach nie ab, ein Brief an seine Schwester und einer an seine Nichte sind erhalten geblieben. Auch unterstützte er die Familie öfter mit Geld aus seinen Autorenhonoraren. In einem seiner Vorworte schrieb er liebevolle, lobende Worte über seine Heimatstadt. Von 1693 bis 1696 wechselte er in die böhmische Ordensprovinz nach Prag. Dorthin lässt seine Schwester aus dem kriegszerstörten Cochem für einige Zeit nachkommen. Wegen seiner finanziellen Zuwendungen an die Familie war der nächste Ärger vorprogammiert. Ein Mönch, der sein Armutsgelübde ernst nimmt, wäre wohl kaum in der Lage, noch Verwandte "durchzufüttern". Diesen Vorwurf musste er sich öfter gefallen lassen.
In seinem Buch von 1750 zur Geschichte des rheinischen Kapuzinerordens erinnert sich der Chronist, dass er als junger Mönch von Pater Martin sehr beeindruckt war, vor allem von dessen tiefer Frömmigkeit und wie wichtig diesem die Eucharistiefeier gewesen war. Zu diesem Thema schrieb Martin in Prag das Buch, das die weiteste Verbreitung erfuhr; die "Erkärung der heiligen Messe". Mit den Übersetzungen in andere Sprachen sind mehr als 400 Auflagen aus drei Jahrhunderten bekannt. Aus dem einstigen Bestseller ist ein Longseller geworden. Die englische Übersetzung wird noch heute in Amerika in immer neuen Taschenbuchausgaben herausgegeben. Sein gesamtes schriftstellerisches Werk umfasst 30 unterschiedliche Titel. Alle dienten dem Zweck, durch die Lektüre die Volksfrömmigkeit zu fördern und zu erhalten. Martin starb mit 75 Jahren an den Folgen eines Treppensturzes im Kloster Waghäusel und wurde auch dort begraben.
Martins Geschenk an seine Heimatstadt
Am 26. und 27. August 1689 war Cochem in Pfälzischen Erbfolgekrieg von den französischen Truppen weitgehend zerstört worden. Viele Cochemer starben, auch nach der Flucht in das Kapuzinerkloster wurden dort viele Einwohner sogar im Kirchenschiff ermordet. Der Wiederaufbau des zerstörten Klosters dauerte zehn Jahre. Weil alles Wertvolle nach dem Kämpfen geraubt worden war, war die Kirche innen noch fast kahl. 1702 brachte Martin dorthin eine aus Lindenholz geschnitzte Muttergottesdarstellung als Geschenk mit, ein sogenanntes Vesperbild: Maria beweint nach der Kreuzabnahme ihren auf den Schoß liegenden toten Sohn Jesus. Damals war die Figur bereits etwa 100 Jahre alt. Sie stand ursprünglich in Babenhausen, wurde aus der protestantisch gewordenen Kirche entfernt und den Kapuzinern in Aschaffenburg überlassen. Von dort wurde sie in den von den Kapuzinern betreuten Wallfahrtskirchen in Engelberg bei Miltenberg und dann in Bornhofen am Rhein aufgestellt. Martin erhielt vom Trierer Kurfürsten und Erzbischof Johann Hugo von Orsbeck die Erlaubnis, das Vesperbild nach Cochem geben zu dürfen. Orsbeck selber ließ 1710 ein steinernes Vesperbild in seiner, zum Bistum gehörenden und gebeutelten Stadt Cochem errichten. Das Heiligenhäuschen mit seinem erzbischöflichen Wappen steht heute noch unmittelbar vor den Martinstor Richtung Sehl, dem Stadttor, durch das sich die französichen Truppen Zutritt zur Stadt verschafft hatten. Die heutige Moselpromenade gab es zum damaligen Zeitpunkt noch nicht, da der Burgfelsen bis weit in die Mosel reichte und erst Anfang des 19. Jahrhunderts abgetragen wurde.
Die "Pietà von Babenhausen", wie sie in der Kunstgeschichte genannt wird, blieb bis zur Säkularisation in der Klosterkirche und wurde dann in der Pfarrkirche St. Martin aufgestellt. 1909 beauftragten Pastor Franz Josef Mockenhaupt und der Kirchenvorstand den Koblenzer Kirchenmaler Karl Vath, die Figur etwas zu restauriern und farblich zu fassen. Das Holz des Sockels war wurmstichig, kleinere Holzstücke fehlten. Vath nahm den Auftrag zwar an, ließ aber den Lahnsteiner Bildhauer Caspar Weis eine exake Kopie anfertigen und gab die farbige verdoppelte Maria an Cochem zurück und verkaufte das Original ohne Rücksprache. Nach einigen Weiterverkäufen erwarb das Landesmuseum Trier 1938 die Pietà. Dort wird ihre Herkunft mittlerweile der Würzburger Werkstatt Tilman Riemenschneiders zugeschrieben. Spätestens nach der Aufstellung im Museum muss der Sachverhalt den Cochemern klar geworden sein, eine Reaktion darauf ist nicht überliefert. Auch wenn Vath mit der Cochemer Kirchengemeinde nicht fair umgegangen ist, hat er zugegebenermaßen den wahren Wert erkannt und den Originalzustand erhalten. Die neue "Pietà von Cochem" steht seit 1909 in der Pfarrkirche, deren Bauform sich seitdem grundlegend geändert hat. Der ursprüngliche mit dem Altarraum zur Mosel ausgerichtete gotische Bau wurde von 1932 bis 1933 durch einen parallel zur Mosel verlaufenden großen Saalbau erweitert, der frühere Altarraum wurde hinten rechts zur Seitenkapelle. Am 5. Januar 1945 wurde dieser neue Bau beim größten Bombenangriff auf Cochem bereits wieder komplett zerstört. Zwei Meßdiener, an die heute ein Gedenkkreuz im alten Chor erinnert, starben beim Versuch, die Krippenfiguren wegen des Fliegeralarms aus der Kirche zu holen, der Kaplan Hauth wurde in der Sakristei verschüttet und überlebte. Der Kirchturm mit barockem Zwiebeldach schwankte minutenlang hin und her und fiel dann nicht in Richtung Marktplatz, sondern der Länge nach in die Bernstraße. Der Hahn war bereits vorher von der Turmspitze abgefallen und steckte dort in einem der vorderen Hausdächer. Noch lange hingen die durch die Bombertreffer aus den Schränken geschleuderten Meßdienerkittel in den umliegenden Bäumen. Das Vesperbild aber blieb völlig unversehrt und der gotische Chor stand ebenfalls noch. Auch die "Mondsichel-Madonna", die ein Cochemer Bürger für den Kichenneubau der 30er-Jahre gestiftet hatte, überstand den Angriff unbeschadet in einem Hohlraum unter herabgestürzten Deckenbalken. Sie steht heute auf der linken Seite vor der Altartreppe. Die heutige Pfarrkirche entstand von 1950 bis 1951 nach den Plänen des Kirchenarchitekten Dominikus Böhm. Durch Statik- und Fundamentprobleme zog sich die Wiedererrichtung des Kirchturmes von 1955 bis 1963 hin. Erst mit Protesten setzten die Cochemer ihre gewohnte und geliebte Zwiebelform für den Turmhelm durch.
Die Pietà steht seitdem in der moselseitigen kleinen Beichtkapelle und ist sicher die am meisten bewusst besuchte Heiligenfigur der Kirche. Seit Generationen wird hier für verstorbene Cochemer vor ihrer Beerdigung das Rosenkranzgebet gehalten. Unzählige Kirchenbesucher entzünden vor dem Bildnis Opferkerzen und kommen hier für einen Moment zur inneren Ruhe. Mit der beschriebenen Hintergrundgeschichte wird die Marienfigur auch zum verbindenden Element in Cochems wechselvoller Geschichte.
Verfasserin: Petra Lambertz, Cochem
Verwendete Literatur:
Kulturzentrum Kapuzinerkloster Cochem. Festschrift zur Eröffnung. Hrsg. Stadtverwaltung Cochem 1998.
Lambertz, Wolfgang: Im Garten herrlicher Bilder. Zum 300. Todestag Pater Martins von Cochem. In: Kreisjahrbuch Cochem-Zell, 2012, S. 138-142.
Pater Martin von Cochem. Festschrift zur Feier des 350. Geburtstages in seiner Heimatstadt. Hrsg. Kirchengemeinde St. Martin Cochem 1984.
Seewaldt, Peter: Bildwerke des späten Mittelalters im Rheinischen Landesmuseum Trier. In: Trierer Zeitschrift. Ärchäologie und Kunst des Trierer Landes und seiner Nachbargebiete. Jahrgang 77/78 2014/15, S. 265-267 und S. 289-299.
Wackenroder, Ernst: Katholische Pfarrkirche St. Martin Cochem. In: Die Kunstdenkmäler des Landkreises Cochem. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1959. Deutscher Kunstverlag München, Berlin, 1984, S. 145-163, speziell zum Vesperbild S. 160-161.